Heute vor zehn Jahren veränderten zwei Passagierflugzeuge, die die Türme des World Trade Center zum Einsturz brachten, den Gang der Geschichte. Als eine Epochenzäsur empfanden viele die Anschläge – die Welt „würde nie wieder so sein wie zuvor“. Eine Ära der Gewissheiten und eines instinktiven Sicherheitsgefühls ging für die westliche Welt zu Ende; eine Zeit, in der man das Böse, das Bedrohliche in den Fernsehapparat und in die Geschichtsbücher gebannt geglaubt hatte.
Ein psychologischer Einschnitt war das Ereignis zweifellos. Wie aber steht es um die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Folgen, die allein die Bezeichnung „Epochenzäsur“ rechtfertigen könnten?
Sie sind noch nicht überschaubar. Die Anschläge bewiesen eine neue – wirklich neue? – Verwundbarkeit der USA, die durch die folgenden unglücklichen Kriege in Afghanistan und Irak bestätigt wurde. Der prophezeite Abschied Amerikas von seiner Rolle als einziger Supermacht wurde in der Folge aber vor allem rhetorisch zelebriert, ist empirisch jedoch mangels ernsthafter Machtkonkurrenten noch nicht aufweisbar. Der vorhergesagte Aufstieg eines radikalen Islams zu einer akuten Bedrohung für das Abendland lässt ebenfalls noch auf sich warten – die säkular-demokratischen Revolutionen in der arabischen Welt scheinen eher nicht auf einen blutigen Kampf der Kulturen vorauszuweisen. Vielleicht werden einst diese Revolutionen – oder auch die Weltfinanzkrise – viel mehr als Epochenbruch empfunden werden als die Ereignisse von 2001.
Aber auch das ist unsicher.
Denn es liegt in der Natur der Sache, dass sich die langfristigen Auswirkungen eines Ereignisses erst nach Ablauf eben dieser langen Frist beurteilen lassen, allerdings auch dann nicht endgültig, sondern nur für die Gegenwart des Urteilenden. Das aber bedeutet, dass sich die Sicht der Nachwelt auf historische Ereignisse ständig ändert. Die Klassifizierung eines Ereignisses als „epochal“ sagt so letztlich weniger über das Ereignis als solches aus, denn über den Deutungshorizont des Betrachters. Sie ist der Versuch, einem seelisch erschütternden oder elektrisierenden Phänomen nachträglich einen Sinn abzugewinnen, der uns Orientierung in unserer Gegenwart zu geben vermag. Dieses Bestreben ist so natürlich wie hilfreich.
Die einstürzenden Türme von New York waren distanziert betrachtet nur ein weiteres Gewaltverbrechen in einer langen Reihe politisch motivierter Gewalttaten unserer Zeit. Als Epochenzäsur erschienen sie uns Abendländlern, weil wir zuvor eine lange Periode inneren und äußeren Friedens genossen hatten, und weil wir mit dem medial vermittelten Mythos aufgewachsen waren, nach dem die Vereinigten Staaten von Amerika der sichere Ort schlechthin auf dieser Welt waren, die Zuflucht der Mühseligen und Beladenen. Gerade der Einwandererhafen New York stand als Symbol für diese Zuflucht, für diese Sicherheit.
Insofern wirft der Schock von 2001 vor allem ein Licht auf den Geisteszustand von uns Abendländlern vor dem 11. September. Wir glaubten, bequem im Zug des Fortschritts zu sitzen, während draußen vor dem Zugfenster die Elendslandschaften Somalias, Haitis, Bosniens, Palästinas vorbeizogen. Wir hatten unsere Fahrkarte gelöst, saßen auf weichen Polstern und erwarteten, dass der Rest der Menschheit an den kommenden Haltestationen nach und nach zusteigen würde. Alles verlief nach Fahrplan, Rückfahrkarten wurden nicht ausgegeben.
Wenn etwas die Ereignisse vom 11. September 2001 heute zum Epochenbruch qualifiziert, dann ist es das Platzen dieser Illusion. Eine Weltfinanzkrise und ein Eurodesaster später hat sich die bittere Erkenntnis bestätigt: Sicherheit und Fortschritt sind auch uns Bewohnern der westlichen Welt nicht naturgegeben. Wir müssen hart an der Welt arbeiten – und manchmal an ihr leiden – um sie uns wohnlich zu gestalten.
Das klingt banal und ist es doch nicht.
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