Wir sind zur Zeit wieder Zeugen einer seltsamen Debatte. Ausländische Politiker und Kommentatoren beschweren sich über Deutschlands relativen Wirtschaftserfolg. Hier z.B. Frankreichs Wirtschaftsministerin Christine Lagarde; oder hier Philip Whyte vom Centre For European Reform.

Das Argument ist ungefähr folgendes:

Die hohe Verschuldung von Ländern wie Griechenland sei die Kehrseite von Deutschlands Exportstärke. Nur weil Griechen und Spanier und Italiener und Amerikaner auf Pump deutsche Produkte kauften, sei die deutsche Exportwirtschaft so stark. Die deutsche Wirtschaft profitiere also enorm von der hohen Verschuldung andernorts, ja sie sei sogar von dieser abhängig; denn Deutschland sei auf Gedeih und Verderb auf seine Exporte angewiesen, da die Binnennachfrage vergleichsweise schwach sei. Deutschland müsse seine Binnennachfrage ankurbeln, damit die Deutschen mehr ausländische Produkte kaufen könnten, um die Wirtschaft in den Krisenstaaten auf Trab zu bringen.

Die rhetorische deutsche Retourkutsche, diese verschuldeten Länder sollten erst einmal wie Deutschland ihre wirtschaftspolitischen Hausaufgaben machen, dann ginge es allen gut, erscheint dieser Argumentation naiv. Denn in dem Moment, da in anderen Ländern keine Schulden mehr gemacht würden, könnten dort auch nicht mehr so viele deutsche Exportgüter gekauft werden, so dass die deutsche Wirtschaft Schaden nähme. Also bleibe die Stärkung der deutschen Binnennachfrage tatsächlich der einzige Weg zur allgemeinen wirtschaftlichen Gesundung. Dadurch würde sowohl der zu erwartende Nachfrageeinbruch im Ausland aufgefangen als auch die Wirtschaft in anderen Ländern stimuliert.

Wir wollen den Realitätsgehalt dieser Annahmen einmal außen vor lassen und uns z.B. nicht fragen, ob deutsche Maschinenbauer die Apparate, die sie im Ausland nicht mehr los werden, dann über deutsche Baumarktketten an den plötzlich mit neuer Leidenschaft konsumierenden deutschen Endverbraucher verkaufen sollten („In jeden Hobbykeller gehört eine CNC-Fräsmaschine!“). Oder ob mit neuer Kaufkraft versehene deutsche Konsumenten ihr Geld tatsächlich für Produkte aus Griechenland, Lettland oder Irland ausgeben würden. (Möchten Sie zur Zeit nach Griechenland in Urlaub fahren?)

Interessanter scheint mir, dass hier zwei unterschiedliche, nun sagen wir: wirtschaftsethische Konzepte aufeinanderzutreffen scheinen. Die Forderung an die deutsche Wirtschaftspolitik, die Binnennachfrage zu stärken, ist ja letztlich nichts anderes als die Forderung, mehr Schulden zu machen.

Nun hat sich in den letzten Jahren – Jahrzehnten? – in Deutschland eine Sicht durchgesetzt, die das öffentliche Schuldenmachen sehr kritisch bewertet. Das Motiv, das sich hier Geltung verschafft, ist weniger ein ökonomisch-pragmatisches als ein moralisches. „Hohe öffentliche Verschuldung ist unmoralisch, weil sie die Kosten für unseren Lebensstil künftigen Generationen aufbürdet.“ Und zwar unabhängig davon, ob sie uns dabei hilft, eine stockende Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

Dieser moralische Impetus ist in Deutschland aus zwei Gründen vielleicht besonders stark. Zum einen hat die Wiedervereinigung Kosten und in deren Gefolge Schulden mit sich gebracht, die andere Länder nicht zu tragen hatten. Zwar war und ist die öffentliche Verschuldung in einigen anderen Ländern nicht geringer; sie war aber nie so im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit wie in Deutschland, wo sie als Teilaspekt eines spektakulären historischen Ereignisses immer im Licht der Öffentlichkeit stand. Zum anderen waren und sind die demographischen Prognosen für Deutschland ungünstiger als etwa für Frankreich, Großbritannien und die USA. Die Schrumpfung der deutschen Bevölkerung ist seit zwei Jahrzehnten ein medial immer wieder aufbereitetes Thema und als Tatsache fest im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert. Vor diesem Hintergrund erscheint hohe öffentliche Verschuldung als besonders unmoralisch, impliziert sie doch, dass die Wenigen dazu verdonnert werden, künftig die Schuld der Vielen zu tragen.

Daher sind die Rettungs- und Konjunkturpakete, die als Reaktion auf die Finanzkrise allerorten geschnürt wurden, in Deutschland stets skeptischer gesehen worden als in vielen anderen Ländern. Eine Krise die durch Verschuldung verursacht wurde, sollte man nicht durch noch mehr Verschuldung zu bekämpfen suchen; so lautete ein häufig vorgebrachtes Argument. Dass es sich hier um unterschiedliche Arten der Verschuldung handelte – hier privatwirtschaftliche, dort öffentliche – spielt keine Rolle, da das Argument im Kern moralischer Natur ist: Ein Unheil, das durch allgemeine Unmoral verursacht wurde, kann man nicht durch noch mehr Unmoral wieder gut machen.

Und so ist es denn in dieser Logik letztlich unwichtig, ob durch noch höhere Verschuldung kurz- und mittelfristig pragmatische ökonomische Vorteile errungen werden können.  Langfristig betrachtet – sozusagen im Angesicht der Ewigkeit – wird die ökonomische Vorsehung die Rechtschaffenen belohnen und die Sünder verdammen.  Anders gesagt: Man nimmt lieber eine Verlängerung oder gar Vertiefung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in Kauf, als vom steilen Pfad der Tugend abzuweichen; in der Hoffnung, dass sich das irgendwann auszahlt.

Ist diese Hoffnung begründet oder ist auch sie nur eitler Wahn? Dies ist letztlich eine Frage des Glaubens. Wie denn überhaupt die Wirtschaftswissenschaft eine Nachbardisziplin der Theologie ist.


 

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