Thorsten Kleinschmidt, 6. November 2017
Luther, Luther, Luther. Im Monat der 500-Jahr-Feiern des Wittenberger Thesenanschlags gibt es kein Entrinnen. Sogar ins deutsche Fernsehen – ansonsten ein ziemlich religionsfreier Raum – hat der Reformator es geschafft. Das ZDF ging das unerhörte Wagnis eines Luther-Musicals ein, in dem M.L. nicht zum politischen Revoluzzer verharmlost wurde – nein: Es wurden tatsächlich ein paar religiöse Inhalte ins Scheinwerferlicht gedreht, und eine Inkarnation der Himmlischen Heerscharen sang – höchste der Provokationen – von Gott, oder besser: von GOTT.
GOTT. Der spielt ansonsten beim medialen Gedenken keine große Rolle. Es gibt ja auch nicht allzu viele Menschen in Deutschland, die mit IHM auf vertrautem Fuße stehen. Die deutsche Nation zeichnet sich heute gewiss durch manche schöne Tugend aus; aber nicht durch überbordende religiöse Kreativität oder auch nur Kompetenz. Hierzulande herrschen der Atheismus der Ahnungslosen und das Gottvertrauen der Gleichgültigen. Und so verwundert es nicht, dass zu den theologischen Leistungen und Fehlleistungen des Martin Luther kaum etwas zu hören und zu lesen ist.
Um so eifriger bemühen sich Kulturredakteure, Leitartikler, Blogger und andere Berufene uns klar- und weiszumachen, dass die großen Verdienste des M.L. auch und vor allem auf durchaus weltlichen Gebieten zu finden seien. Hier aber wird uns so manches Halbgare aufgetischt, in einem Eintopf aus altprotestantischer Propaganda, nostalgischer Pfarrhausromantik, borussisch-wilhelminischer Herrschaftsideologie, teutonischem Kulturnationalismus und evangelisch-bürgerlichem Erwähltheitsdünkel.
In diese Suppe zu spucken, ist patriotische Pflicht. Denn auf die Wahrheitsliebe bilden wir uns in Deutschland seit Luther doch so viel ein.
Die beliebtesten Irrtümer des Luther-Jahres

„Die Reformation hat das Individuum befreit.“
Diese Behauptung hat die evangelische Rechtfertigungslehre im Blick, Luthers Konzept von der „Freiheit eines Christenmenschen“. Demnach bedarf der Mensch nicht der Fürsprache der Kirche, um vor Gottes Augen Gnade zu finden. Er braucht auch keine Liste von Geboten abzuarbeiten; nein, um in den Himmel zu kommen, reicht der Glaube allein.
Tatsächlich löst Luthers Lehre die Menschen aus der Abhängigkeit von Priestern und Bischöfen. Dafür verstärkt sie die Abhängigkeit der Menschen von Baronen und Königen. Denn an die Stelle der Ehrfurcht vor der Kirche tritt bei Luther die Botmäßigkeit gegenüber der Obrigkeit. Luthers Fixierung auf Stabilität und ein gutes Verhältnis zu den politisch Mächtigen stand einer wirklichen Befreiung des Individuums immer im Weg. Am längsten hielt sich in Deutschland die Leibeigenschaft im protestantischen Königreich Hannover.
Dass Luthers Rechtfertigungslehre das Individuum außerdem auch von der Pflicht zum guten Handeln befreit hat, ist eine eher subtile Pointe, bei der einem aber das Lachen im Halse stecken bleibt.
„Die Reformation war der erste Schritt auf dem Weg zur Demokratie.“
Grober Unfug. Die lutheranische Obrigkeitsfixierung führte dazu, dass die evangelisch geprägten Gegenden Deutschlands lange ein schwieriges Pflaster für Demokraten waren; angefangen mit Luthers Ablehnung des Freiheitskampfes der Bauern bis hin zum Kotau des evangelischen Bürgertums vor der Monarchie im wilhelminischen Staat. Die Demokratie kam nach Deutschland aus dem katholischen Frankreich, über das katholische Rheinland.
„Die Reformation hat die Menschen von der Herrschaft verantwortungsloser Eliten befreit, vor allem von der Herrschaft der Kirche.“
Nun ja, sie hat die katholisch-kirchlichen Eliten entmachtet und neue an ihre Stelle gesetzt. Gut 30 Jahre nach Luthers Thesenanschlag berief die katholische Kirche das Konzil von Trient, auf dem die kirchlichen Missbräuche, an denen sich Luthers Widerstand entzündet hatte, weitgehend beseitigt wurden. Kam es jetzt zur Versöhnung der Protestanten mit Rom? Natürlich nicht: Die neuen evangelischen Eliten hingen genauso an ihren Ämtern und Pfründen wie zuvor die katholischen; sie pflegten ihre theologisch-dogmatischen Spezialitäten und Spitzfindigkeiten so hingebungsvoll wie jemals ein katholisches Kardinalskollegium die seinen.
„Die Reformation hat mit dem mittelalterlichen Aberglauben der Kirche Schluss gemacht und den Weg für Aufklärung und Wissenschaft geebnet.“
Ach ja, die schlimme katholische Kirche. Der von Luther zum Antichristen erklärte Papst Leo war vielleicht kein besonders frommer Mann; aber dafür ein Förderer der Künste und Wissenschaften. Er war ein Renaissance-Fürst; das Italien („Rom“), an dem sich die Lutheraner so abarbeiteten, war das Italien der Renaissance. Es war in der Tat nicht besonders gottesfürchtig, aber dafür dynamisch und fortschrittlich, wie auch immer man diesen Fortschritt im Einzelnen bewerten mag. Martin Luther dagegen mit seiner Besessenheit vom Wortlaut der Bibel war ein Fundamentalist. Er wollte zurück zum wahren Glauben, nicht nach vorne in eine bessere Zukunft. Ein Freund der Wissenschaft war er nicht, und auch den Hexenglauben seiner Zeit hat er geteilt. À propos: In den erzkatholischen Ländern Italien, Spanien und Frankreich gab es so gut wie keine Hexenverfolgung – der Hexenwahn war eine Spezialität der protestantischen und gemischt-konfessionellen Länder des Nordens.
„Die Reformation war die Voraussetzung für die Entstehung der dynamischen kapitalistischen Wirtschaft. Ihr verdanken wir das europäische Wirtschaftswunder.“
Das ist der Nachhall der These Max Webers von der protestantischen Wirtschaftsethik. Danach habe der Drang der Protestanten, sich ihre Gottgefälligkeit durch ihren Wohlstand zu beweisen, zu besonderem materiellem Ehrgeiz geführt, dieser seinerseits zu einer Konzentration auf wirtschaftliche Aktivitäten und dies schließlich zu besonderem wirtschaftlichem Erfolg.
Wäre die These richtig, so wäre unverständlich, warum die lutherisch geprägten Gesellschaften Skandinaviens nach der Reformation 300 Jahre brauchten, um wirtschaftlich zu West- und Mitteleuropa aufzuschließen; warum das erzkatholische Frankreich seit 350 Jahren zu den erfolgreichsten Wirtschaftsnationen Europas gehört; warum die Industrialisierung auf dem Kontinent im katholischen Belgien begann; warum die katholisch geprägten Regionen Deutschlands heute im Schnitt wirtschaftlich erfolgreicher sind als die evangelisch geprägten und, und, und. Hier sind doch ganz offensichtlich andere Gesetzmäßigkeiten am Werk.
„Die Reformation hat den Deutschen zu einem kulturellen und politischen Bewusstsein ihrer selbst verholfen. Dadurch hat sie die Entstehung der modernen deutschen Nation ermöglicht.“
Oh nein !! Die Reformation hat allenfalls den deutschen Protestanten zu der albernen Illusion verholfen, sie seien identisch mit der deutschen Nation. Tatsächlich hat die Reformation Deutschland zutiefst gespalten und das Land in den schrecklichsten Krieg seiner Geschichte – den Dreißigjährigen – abrutschen lassen. Sie hat die Entstehung einer politischen deutschen Nation nicht befördert, sondern dreihundert Jahre lang verhindert. Ohne die katholischen Kaiser gäbe es heute kein Deutschland mehr.
„Die Reformation hat die Deutschen von der Bevormundung und Ausbeutung durch ausländische Eliten befreit. Luther war ein nationaler Freiheitsheld.“
Das ist der Nationalmythos des 19. Jahrhunderts, der Martin Luther zum ersten Freiheitskämpfer gegen das Welschtum, wie man das damals nannte, stilisierte; sozusagen zum Propheten der Befreiungskriege gegen das Frankreich Napoleons. Aber die Päpste waren keine fremden imperialistischen Eroberer. Zwar versuchten sie tatsächlich mit erstaunlicher Chuzpe, den deutschen Gläubigen über den Verkauf von Ablassbriefen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das hätte aber niemals funktioniert, wenn die einheimischen deutschen Eliten da nicht fröhlich mitgemacht hätten. Die deutschen Fürsten, die gegen eine ansehnliche Beteiligung an der Beute die Machenschaften der päpstlichen Ablassprediger erlaubten und unterstützten, waren keinen Deut besser als die italienischen Kurienkardinäle, gegen die die Lutheraner so wetterten. An die allergnädigsten Landesherren aber hat sich der lutherische Furor niemals herangewagt – es war sicherer, die Schuld an den Missständen den Welschen in die Schuhe zu schieben. Spätestens da, wo es sich in nationale Töne verströmt, ist das protestantische Freiheitspathos heuchlerisch und verlogen.
„Die Reformation und die Bibelübersetzung Luthers haben die kulturelle Entwicklung Deutschlands gewaltig angeschoben.“
Das stimmt! Hurra! Es gibt also doch noch ein weltliches Verdienst der Reformation. So theologisch zweifelhaft sie auch sein mag: Die besessene Fixiertheit der Protestanten auf ein (einziges) Buch hat erstaunliche kulturelle Frucht getragen. Da die Bibel als einzige Quelle der Wahrheit galt, war es von größter Bedeutung, sie lesen und verstehen zu können. Schulbildung erschien auf einmal als der Schlüssel zur Erkenntnis Gottes. Luthers Bibelübersetzung war ein gewaltiger Schritt auf dem Weg zu einer einheitlichen, leistungsfähigen deutschen Literatursprache. Sein Vorbild inspirierte eine lange Reihe von Gelehrten und Begeisterten. Paradoxerweise wurde ausgerechnet Luther, der kein Freund der Wissenschaft war, so zum Wegbereiter einer neuen geistigen, weltlichen Kultur der Deutschen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren tatsächlich die meisten der bedeutenden deutschen Schriftsteller und Philosophen evangelisch. Das Land der Dichter und Denker war ein lutherisch geprägtes Land. Die katholisch ausgerichteten Landstriche schlossen in den diversen Disziplinen der Hochkultur erst seit dem 18. Jahrhundert auf; zunächst auf den Gebieten der Musik und der Baukunst.
Luther – ein Kultur-Heros und sonst nichts?
So wäre denn Luther ein deutscher Kultur-Heros wider Willen, und sonst nichts?
Doch, doch. Martin Luther war - vor allem - Theologe; einer der großen Gottsucher der europäischen Geschichte. Und er fand seinen Gott, einen neuen: nicht den dräuenden und strafenden der mittelalterlichen Kirche, sondern einen gnädigen und liebenden. Er fand einen Gott, dem der Mensch erhobenen Hauptes gegenübertreten konnte. Mit Martin Luther fanden Christen zum aufrechten Gang zurück, mit unabsehbaren Folgen. Im Blick auf die großen Linien der Kulturgeschichte könnte man auch sagen: Im Protestantismus fand die Masse der Bevölkerung den Weg in die Renaissance – dorthin wo die geistigen Eliten schon waren.
Das ist ein faszinierendes Ereignis: Der spätmittelalterliche Fundamentalist M.L. ermöglicht der christlichen Religion den Sprung in eine neue Ära. Wenn wir die Reformation betrachten, werden wir Zeugen einer erstaunlichen Häutung des Christentums. Abgelegt wird die Religion des Mittelalters, die für eine neue Zeit nicht mehr passte, und zum Vorschein kommt eine Religion für die Neuzeit: ein Glaube für selbstbewusste Menschen, die ihre Fähigkeiten und ihre Stärke zunehmend erkennen.
Mehrmals in seiner Geschichte hat sich das Christentum so veränderten Zeitumständen angepasst. Die leeren Kirchen auch im Jahr des Reformationsjubiläums sind vielleicht ein Hinweis darauf, dass dies wieder Not tut: Die heute vertretenen christlichen Lehren werden anscheinend wie einst im Spätmittelalter einem veränderten Bewusstsein und veränderten Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht. Haben Menschen heute noch ein Bedürfnis nach Erlösung von ihren Sünden? Sehnen sich Menschen heute noch wie verlorene Kinder nach der Einbindung in eine metaphysische Familie mit Vater, Sohn, Heiligem Geist, Muttergottes und heiligen Vettern oder Kusinen? In der Lehre Jesu, wie wir sie in den Evangelien finden, spielt das alles durchaus nicht die große Rolle, die Theologen ihm beimessen. Hier ist viel Raum für neue Lesarten und Ideen. Sie könnten uns helfen, wieder eine gesunde, Freiheit ermöglichende Distanz zu den Gütern dieser Welt zu gewinnen, ohne uns mit verstiegenen Gedankenkonstrukten aus der Spätantike zu quälen.
Vielleicht braucht das Christentum einen neuen Martin Luther. Wahrscheinlich sogar.
Bild Lucas Cranach d. Ä.: Martin Luther als Augustinermönch. (Via Wikimedia Commons.)
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