Ist es vorbei? Können wir die Stöpsel wieder aus den Ohren ziehen? Ist die sogenannte Grass-Debatte jetzt ausgestanden? Wir gestehen es: Ob der Schriftsteller X ein alter Antisemit, ob der Publizist Y ein fanatischer Politzensor ist, und was die Journalisten A, B und C zu diesen Fragen meinen – es interessiert uns nicht die Bohne.

Was uns dagegen sehr wohl interessiert, ist der Staat Israel, und wie er sich zu Deutschlands außenpolitischen Interessen verhält. Die „Sicherheit“ oder das „Existenzrecht“ Israels sei Teil der deutschen „Staatsraison“, sagt Angela Merkel nun schon seit Jahren, meist unwidersprochen. Das klingt, als hingen Wohl und Wehe des deutschen Staates von der Sicherheit Israels ab. Geht’s nicht vielleicht eine Nummer kleiner? Aber um große Worte sind wir in Deutschland selten verlegen, wenn die Rede auf Israel kommt. Die letzten Wochen zeigen mal wieder, dass dieser hohe, moralisierende Ton eine rationale Erörterung der Bedeutung Israels für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik behindert.

Wir möchten die Dinge etwas nüchterner betrachten und ersetzen daher zuallererst einmal das Wort „Staatsraison“ durch das Wort „Interesse“. Also: Israel, Palästinenser, Iran – Wo liegen die deutschen Interessen? Ein paar grundlegende Unterscheidungen:

  
1. Das Existenzrecht Israels

Israel ist ein demokratischer Staat; seine Existenz ist durch seine Bevölkerung legitimiert – anders als das etwa bei der DDR, beim Sudan vor der Teilung, bei Jugoslawien der Fall war.

Das Völkerrecht verbürgt jedem anerkannten Staat das Existenzrecht, egal ob er demokratisch legitimiert ist oder nicht. Schon dies ist eine respektable Position, da sie klassischem Kolonial-Imperialismus wehrt. Dieses Existenzrecht ist das Fundament einer internationalen Friedensordnung und damit zentral im deutschen Interesse. Wer sich das Recht herausnimmt, Israels Existenzrecht zu bestreiten, will morgen vielleicht andere Kleinstaaten auflösen – warum überfallen wir nicht die Schweiz und teilen sie auf?

Wenn nun aber überdies einem demokratisch legitimierten Staat das Existenzrecht abgesprochen wird, so ist dies auch noch ein gravierender Anschlag auf das demokratische Prinzip. Hier nicht gegenzuhalten, bedeutet eine Schwächung der demokratischen Idee zugunsten diktatorisch-imperialistischer Prinzipien. Die Demokratisierung möglichst vieler Staaten ist aber in Deutschlands Interesse, da Demokratien untereinander wesentlich verträglicher sind – eine Demokratisierung der Welt bedeutet im Ansatz eine Befriedung der Welt.

Ergo: Die Verteidigung des Existenzrechts Israels ist im deutschen Interesse, so wie das Existenzrecht jedes demokratischen Staats in Deutschlands Interesse liegt. Einer besonderen Verantwortung bedarf es dazu nicht.

 
 
2. Israels Sicherheit

 

Die Unterstützung Israels gegen Staaten und Bewegungen, die das Land mit Terror und Krieg zu überziehen suchen, ist ebenfalls im deutschen Interesse. Es liegt nämlich im deutschen Interesse, Angriffskriege einerseits, gezielte Angriffe auf Zivilisten andererseits als Mittel der Politik zu ächten.

Das heißt: Selbst wenn man militanten Palästinensern zugutehalten will, dass sie sich legitimerweise gegen eine fremde Besatzungsmacht verteidigen, ist die Methode ihrer Verteidigung – Terror gegen Zivilpersonen – für Deutschland nicht akzeptabel. Und zwar auch dann nicht, wenn israelische Streitkräfte ihrerseits palästinensische Zivilisten töten. Verteidigung muss sich gegen den unmittelbaren Angreifer richten; zielt sie auf Unbeteiligte, müssen wir sie als politisch motivierten Mord verdammen.

Noch einmal: warum? Weil eine internationale Ordnung nicht in Deutschlands Interesse liegt, in der es erlaubt wäre, aus Gründen politischer Nützlichkeit Unbeteiligte und Unschuldige zu töten. Sonst werden demnächst deutsche Austauschschüler in die Luft gesprengt, weil das deutsche Unternehmen X Geschäftsbeziehungen zur unpopulären Regierung des Landes Y unterhält.

Aus demselben Grund schaden natürlich auch israelische Vergeltungsschläge, die unbeteiligte palästinensische Zivilisten treffen, deutschem Interesse, um das mindeste zu sagen.

 

3. Israelische Siedlungspolitik

Die israelische Siedlungs- und Hegemonialpolitik in den besetzten Gebieten läuft deutschen Interessen zuwider: Sie verhindert eine Befriedung der Region und macht einen großen Krieg oder eine neue Welle des Terrorismus wahrscheinlicher, unter dessen Ausläufern in irgendeiner Form auch Deutschland zu leiden hätte. Sie stellt ein Beispiel von Kolonialismus dar, das geeignet ist, Nachahmung in anderen Teilen der Welt zu inspirieren, was andere Konflikte anheizen kann, die wiederum Deutschlands Interessen zuwider laufen dürften.

 

4. Luftschlag gegen das iranische Atomwaffenprogramm

Ein israelischer Angriff auf den Iran könnte ebenfalls in einen größeren Krieg münden, dessen Auswirkungen auch Deutschland treffen könnten. Er würde des Weiteren das Angriffsverbot des Völkerrechts weiter schwächen, ohne dass zum Ausgleich eine andere wichtige Norm – wie die Ächtung von Völker- oder Massenmord (Bosnien, Kosovo, Libyen) – gestärkt würde.

Zwar ist auch ein nuklear bewaffneter Iran nicht im deutschen Interesse, würde er doch vermutlich ein neues nukleares Wettrüsten südöstlich von uns auslösen. Es ist aber nicht zu erkennen, wie ein israelischer Angriff die Nuklearisierung des Iran nachhaltig verhindern könnte. Allenfalls würde er ein iranisches Rüstungsprogramm verzögern; dies aber würde die Risiken, die aus deutscher Sicht mit dem Angriff verbunden wären, kaum aufwiegen.

Wir meinen daher, dass ein israelischer Luftschlag gegen iranische Atomanlagen Deutschlands Interessen mehr schädigen als befördern würde.

 

Was ergibt das für ein Gesamtbild? Ein utopisches. In einer für Deutschland idealen Welt lebte Israel in absoluter Sicherheit vor seinen Nachbarn und vor Terroristen jeder Couleur; es gäbe einen völlig souveränen Palästinenserstaat mit gesicherten Grenzen; Israel verzichtete auf einen Angriff auf den Iran und dieser auf den Bau von Atomwaffen. In kaum einer Region der Welt klingt ein optimistisches Szenario so unwahrscheinlich wie hier. Wir wagen an dieser Stelle auch keine Vorschläge zur Gestaltung der deutschen Nahostpolitik. (Ein paar Hinweise dazu gab letzte Woche Jörg Lau auf Zeit online.)

Wenn, ja wenn, es eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik gäbe, die diesen Namen verdient, könnte man sich Lösungsansätze für die Region vorstellen. Man könnte an umfassende militärische Sicherheitsgarantien für Israel denken, im Austausch gegen einen völligen Rückzug Israels aus den Palästinensergebieten. Eine wirtschaftliche Anbindung Israels, des Palästinenserstaates, Libanons an den Europäischen Wirtschaftsraum kommt in den Sinn; wie auch die Vision eines regionalen Systems kollektiver Sicherheit unter Einbeziehung der Türkei, Irans, Saudi-Arabiens und Ägyptens – eine Art Nahost-OSZE. 

Wie gesagt: Das alles, wenn Europa tatsächlich europäische Außen- und Sicherheitspolitik betriebe. Daher ist langfristig eine gute deutsche Europapolitik auch eine gute deutsche Nahostpolitik. Da ist es wieder, unser ceterum censeo: Deutschland muss sich ins Geschirr legen, um Europa zu einem außen- und sicherheitspolitischen Akteur zu machen.

Dann blieben uns vielleicht auch Erlebnisse wie die der Wirklichkeit enthobene Grass-Debatte erspart, bei der unter dem Vorwand aktualitätsbezogener außenpolitischer Diskussion doch mal wieder nur die Vergangenheit der Kombattanten bewältigt wurde. Aber dazu kein Wort mehr.
 

  

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