Die Financial Times Deutschland ist zum letzten Mal erschienen, die Frankfurter Rundschau ist insolvent, und vielen deutschen Nachrichtenverbrauchern ist es wurscht. Diejenigen, die das Geschehen überhaupt zur Kenntnis nehmen,  verbuchen es meist achselzuckend als Kollateralschaden des technischen Fortschritts: „Wozu brauchen wir gedruckte Zeitungen, wenn es Internetmedien gibt? Wieso soll man für etwas zahlen, das der Markt andernorts kostenlos zur Verfügung stellt? Verleger und Journalisten haben einfach den Zug der Zeit verpennt!“ Einige besonders Zukunftskundige stellen gar den Sinn des professionellen Redaktionsjournalismus überhaupt in Frage und wissen, dass Informationen künftig sowieso nur noch von Bloggern, von Gelegenheitsjournalisten auf speziellen Wiki- und Video-Portalen sowie von Publikationsprojekten à la Wikileaks recherchiert und veröffentlicht werden. (Eine hübsche Sammlung von Meinungen findet sich in den Kommentaren zu diesem Spiegel-Online-Kommentar von David Böcking.)

Wir halten all diese Einschätzungen für falsch.

Nein, wir sind weder Journalist noch Verleger – wir betreiben ein Blog und verbringen einen (vielleicht zu) großen Teil unserer Lebenszeit im Internet beim Durchstöbern elektronischer Elaborate, immer auf der Suche nach noch besseren Informationsquellen. Unsere Lesezeichendatei enthält tausende, unser Feed-Reader zehntausende von Einträgen, die wir obsessiv auf unseren Festplatten hamstern, in der kindischen Hoffnung, dies alles irgendwann irgendwie auswerten zu können.

Und wir haben gelernt:

    

Heute Teil 1: Spiegel Online und der innere Schweinehund

 

Was haben Nachrichtenportale im Internet den gedruckten Informationsmedien voraus? 

  1. Sie sind aktueller. („Schneller“ wird das oft fälschlicherweise genannt.) Das ist eigentlich kein großer Gewinn - die wenigsten Leser brauchen Informationen in Echtzeit. Immerhin gewinnen wir aber die Illusion, am Puls der Zeit zu sein.
  2. Sie sind leichter verfügbar und erleichtern dem Leser daher die Information aus verschiedenen Quellen und den Vergleich. Wer dagegen hat schon zehn Tageszeitungen abonniert? Tageszeitungen aus Indien oder Argentinien gar? Hier bieten bezahlfreie Internetportale einen Vorteil, der gar nicht überschätzt werden kann.
  3. Sie bieten die Möglichkeit, gezielt Informationen zu einem bestimmten Thema zu suchen und aufzurufen.
  4. Wissenschaftliche Fachportale erschließen darüber hinaus eine Fülle an Hintergrundinformationen, die man sich früher nur in Zeitschriftensälen wissenschaftlicher Bibliotheken anlesen konnte. Auch dies ein unschätzbarer Vorteil – wenn auch nur für Leser mit ausreichender Vorbildung.

Dennoch bleiben dem gedruckten Medium zwei Dinge:

1. Die Tages- oder Wochenzeitung unterliegt nicht dem gleichen Aktualitätszwang wie das Internet; sie braucht nicht alle zwei Stunden neue Artikel zu präsentieren. Damit haben Journalisten die Zeit, gründlicher zu arbeiten: sorgfältiger zu recherchieren, genauer zu denken, besser zu schreiben.

Besonders den wöchentlich oder noch seltener erscheinenden Periodika merkt man diesen Qualitätsvorsprung gegenüber vergleichbaren Online-Medien deutlich an. Aber auch die großen Tageszeitungen haben mehr Spielraum bei der Gewichtung und Ausarbeitung der Nachrichten:
Es kann zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem unterschieden werden – Texte können auf Seite Eins, Zwei, Drei oder in den Rubriken erscheinen; als Leitartikel oder Kommentar, als Bericht, Nachricht oder Kurzmeldung.
Der Nachrichtenstand zu einem Thema wird in einem einzigen Text zusammengefasst statt in mehreren unausgegorenen Zwischenstandsberichten versteckt.
Da der Leser nicht alle paar Stunden eine Live-Einschätzung des Weltgeschehens erwartet, können Kommentare und Analysen auch mal eine Vorlaufzeit von mehreren Tagen haben, was der Qualität in der Regel zu Gute kommt.


2. Der Zeitungs- und Zeitschriftenleser wird nolens volens mit Informationen konfrontiert, denen der Online-Leser nach Belieben ausweichen kann.

Das hängt mit der unterschiedlichen Organisation der Inhalte zusammen. In einer Zeitung oder einer Zeitschrift sind die Artikel gleichsam seriell geschaltet: Bis ich zu dem mich interessierenden Text über Syrien auf Seite fünf komme, durchblättere und überfliege ich die Seiten eins bis vier. Dabei nehme ich viele Informationen zu Themen auf, die mich eigentlich nicht besonders reizen, die aber vielleicht trotzdem wichtig sind. Das gilt auch für Kommentare, die eine Meinung vertreten, die ich zuvor nicht geteilt habe, die mir nun aber vielleicht doch bedenkenswert scheint.

Auf Online-Portalen dagegen sind die Inhalte gewissermaßen parallel geschaltet: Auf der Startseite sind alle neuen Texte verlinkt, und ich kann sie einzeln anklicken, ohne auch nur mit einem einzigen anderen Text gedanklich in Berührung zu kommen. Das führt zwangsläufig zum Rosinenpicken. Ich rufe meinen Syrientext auf und außerdem vielleicht noch zwei oder drei Artikel, deren Schlagzeilen oder Anfütter-Texte besonders griffig formuliert sind; alle anderen Inhalte ignoriere ich. Ganz besonders gilt das für Texte, deren Schlagzeile mich vermuten lässt, dass die Lektüre anstrengend oder ärgerlich sein könnte.
Unwillkürlich vermeide ich im Internet

- Informationen über Themen, die ich selbst noch nicht auf dem Radar habe;
- Informationen besonders komplexer Art oder über besonders komplizierte Themen;
- Meinungen, die meinen eigenen Vorurteilen zuwider laufen.

Bei der Zeitung oder der Zeitschrift ist die Wahrscheinlichkeit dagegen recht groß, dass ich solche Inhalte zumindest überfliege; oft lese ich mich dann aber auch fest. Daher nimmt die Lektüre von faz.net zwanzig Minuten, die Lektüre der gedruckten FAZ eineinhalb Stunden in Anspruch.

Unser innerer Schweinehund liebt Spiegel Online und Co. Alle zwei Stunden werden dort am Büfett frische Informationshäppchen gereicht, gut bekömmlich und leicht verdaulich. Ungewohnten Geschmacksrichtungen und übermäßig gesunder oder nahrhafter Kost kann man leicht ausweichen – nichts liegt einem nach solch geistiger Speisung schwer im Magen, nichts schlägt einem aufs Gemüt. Oder anders gesagt: Da man die Möglichkeit hat, nur solche Informationen wahrzunehmen, die ins eigene Weltbild, zum eigenen Geschmack und zur eigenen Verdauung passen, kann man nach Belieben aufs Mit- und Querdenken verzichten.

Unser besseres Ich hingegen kann ohne Gedrucktes der seriösen Art nicht auskommen. Der Weg zur Weisheit führt durch die Wüste – auch durch die Bleiwüste. Hier gibt es keine bequemen Hypertext-Abkürzungen zu just dem Infoschnipsel, der gerade optimal zu meinem Cappuccino passen würde. Hier gibt es auch keine Flucht vor der Zumutung, sich Information erarbeiten zu müssen; keine launigen YouTube-Filmchen, keine sinnfreien Bildergalerien, keine unterhaltsamen Keilereien unter den Leserkommentatoren, kein Suchfeld fürs Weitersurfen auf unterhaltsameren Webseiten. Stattdessen hat der Leser, nein, nicht einzelne Texte, er hat ein ganzes Textkorpus unter den Händen, das nicht nach Maßgabe der Unterhaltsamkeit und geistigen Barrierefreiheit gestaltet ist, sondern das den Leser zur geistigen Mitarbeit nötigt. Die Zeitung konfrontiert den Leser mit Informationen und Inhalten, die er von sich aus nicht gesucht hätte. Und genau das ist es, was unseren Horizont erweitert.


Summa:

Nachrichtenportal einerseits, Zeitung und Zeitschrift andererseits sind grundlegend verschiedene Medien, die unterschiedlichen Gesetzen gehorchen und unterschiedliche Funktionen erfüllen. Wesenskern der gedruckten Medien sind Periodizität in der Erscheinungsweise, Serialität bei der Präsentation der Inhalte, Isolation und Abgeschlossenheit des medialen Produkts – vernetzt ist die Zeitung nur mit dem Kopf des Lesers. Alle diese Merkmale sind nicht nur Schwächen, sondern gleichzeitig auch Stärken. Internet-Nachrichtenportale können die traditionellen Medien in ihren spezifischen Funktionen nicht ersetzen. Zeitung und Zeitschrift werden daher unserer Überzeugung nach überleben, allerdings werden elektronische Ausgaben künftig sicher eine größere Rolle spielen.

 

Demnächst Teil II:
Blogger und die Crowd –  Fliegengewichte und Selbstdarsteller

 

 

 

 

1 Kommentar

Verschachtelt

  • Max Weber  
    Online ist einfach schneller! Die Zeitungen machen aber auch viele Fehler, siehe http://deutscheverleger.wordpress.com/2014/07/11/heilbronner-stimme-negative-schlagzeilen-sollen-auflageschwund-stoppen/

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