Thorsten Kleinschmidt, 3. Oktober 2018
 


Vor 100 Jahren wurde Deutschland eine westliche Demokratie – beurkundet von Wilhelm II. persönlich

In diesem Monat vor 100 Jahren, am 28. Oktober 1918, wurde das Deutsche Reich eine Demokratie westlichen Zuschnitts.

Der Erste Weltkrieg war noch nicht vorbei; jeden Tag, jede Stunde wurde getötet und wurde gestorben. Es waren keine „Siegermächte‟, die Deutschland die Demokratie brachten. Nein: Das deutsche Parlament in seinen zwei Kammern Reichstag und Bundesrat beschloss eine Änderung der Reichsverfassung, die daraufhin vom Kaiser angeordnet wurde; sein Erlass wurde durch den Reichskanzler Max von Baden gegengezeichnet.

Mit nur sechs Veränderungen wurde das Deutsche Reich zu einer parlamentarischen Monarchie. Der neue Text:

Artikel 11, Absätze 2 und 3
„Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags erforderlich.

Friedensverträge sowie diejenigen Verträge mit fremden Staaten, welche sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags.‟

 

Artikel 15, Absätze 3 bis 6
„Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags.

Der Reichskanzler trägt die Verantwortung für alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt.

Der Reichskanzler und seine Stellvertreter sind für ihre Amtsführung dem Bundesrat und dem Reichstag verantwortlich.‟

 

Artikel 17, Satz 2
„Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers.‟


Artikel 53, Absatz 1
Die Kriegsmarine des Reichs ist eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaisers. Die Organisation und Zusammensetzung derselben liegt dem Kaiser ob, welcher die Offiziere und Beamten der Marine ernennt, und für welchen dieselben nebst den Mannschaften eidlich in Pflicht zu nehmen sind. Die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Verabschiedung der Offiziere und Beamten der Marine erfolgt unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers.‟
 

Artikel 64, Absatz 2, Satz 1
„Der Höchskommandierende eines Kontingents, sowie alle Offiziere, welche Truppen mehr als eines Kontingents befehligen, und alle Festungskommandanten werden von dem Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers ernannt.‟
 

Artikel 66, Absätze 3 und 4
„Die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Verabschiedung der Offiziere und Militärbeamten eines Kontingents erfolgt unter Gegenzeichnung des Kriegsministers des Kontingents.

Die Kriegsminister sind dem Bundesrat und dem Reichstag für die Verwaltung ihres Kontingents verantwortlich.‟


 

Damit war Deutschland eine Demokratie – mit einem Kaiser als Staatsoberhaupt. Drei fundamentale Änderungen stellten das politische System Deutschlands auf eine neue Basis –  vom Kopf auf die Füße.

  1. Der Reichskanzler wurde vom Reichstag abhängig. Zuvor hatte er mit Unterstützung des Kaisers auch gegen den Reichstag regieren können. Nun konnte er vom Reichstag gestürzt werden.  Zwar wurde er auch weiterhin nicht vom Reichstag gewählt, sondern vom Kaiser ernannt. De facto musste der Monarch nun aber bei der Ernennung die Wünsche der Parlamentsmehrheit berücksichtigen – so wie heute noch in Großbritannien.
     
  2. Der Kaiser wurde der Kontrolle des Kanzlers unterstellt. Ohne die Unterschrift des Kanzlers konnte der Monarch nun nicht einmal mehr einen Offizier versetzen.
     
  3. Gegen den Willen des Parlaments konnte künftig weder Krieg geführt noch Frieden geschlossen werden.
     
Max von Baden
Max von Baden - der erste demokratisch legitimierte Reichskanzler

Der Übergang zur vollen Demokratie ging glatt vonstatten, weil die Initiative von den konservativen Kräften selbst ausging. Angesichts der drohenden Kriegsniederlage wollte das militaristisch-monarchistische Lager die Regierung auf eine möglichst breite Basis gestellt wissen – nicht zuletzt, um die Verantwortung für die unvermeidlich erscheinende Kapitulation auf demokratische Politiker abwälzen zu können.  Dies funktionierte dann auch leidlich – in der „Dolchstoßlegende‟ versuchte man den Eindruck zu erwecken, die Demokratisierung sei Schuld an der Niederlage.  

Der reaktionäre Traum von einer späteren Wiederherstellung des alten Systems dagegen war ein Schaum. Die demokratischen Kräfte nutzten ihre Chance entschlossen genug: Nur 12 Tage nach dem Übergang zur Demokratie, am 9. November, rief Philipp Scheidemann die Republik aus – der Kaiser floh ins Exil und die Monarchie war endgültig erledigt.

Die nun bald begründete Weimarer Republik ging 1933 selbst unter; wäre eine demokratische Monarchie stabiler gewesen? Die Nationalsozialisten jedenfalls hatten mit den ständischen Fantasien der alten Eliten nichts am Hut – ein Zurück in die alte Welt gab es nicht mehr. Die politische Pathologie des Nazi-Totalitarismus traumatisierte sowohl Demokraten als auch Reaktionäre. Und so fanden sich nach 1945 beide Lager in einer stabilitätsfixierten neuen Demokratie zusammen.

Wenn wir heute an die Vorläufer der Grundgesetz-Demokratie denken, fällt uns zuerst die Republik ein, die auf den 9. November 1918 folgte. In gewisser Hinsicht war aber die konservative Adenauer-Demokratie eher die Nachfolgerin der 12-tägigen parlamentarischen Monarchie des Oktobers.  Auch hier ging es um die Herstellung eines politischen Konsenses der patriotisch verantwortlichen Kräfte zur Bewältigung einer existenziellen Gefahr – diesmal vor allem der Gefahr des totalitären Stalinismus, aber durchaus auch der Gefahr durch die imperiale Interessenpolitik der Westmächte.

Die deutsche Demokratie verdankt ihre Entstehung zwei grundsätzlich verschiedenen Impulsen: zum einen dem Willen zur inneren Befriedung durch Schaffung einer „gerechten‟ Ordnung (1848, November 1918); zum anderen dem Bedürfnis nach Konsolidierung angesichts einer äußeren Bedrohung (Oktober 1918, 1949).  In beiden Fällen muss ein möglichst breit verankerter Interessenausgleich verschiedener Bevölkerungsgruppen institutionell abgesichert werden, was am besten in einem demokratischen Parlamentarismus umgesetzt werden kann.

Wie auch immer – an diesem heutigen Tag der deutschen Einheit können wir uns daran erinnern, dass Deutschland vor 100 Jahren im Krieg gegen den Westen eine westliche Demokratie wurde, und dass es Kaiser Wilhelm II. war, der diesen Übergang beurkundete. Keine Ironie der Geschichte, sondern der Gang der Welt.

 

 

Foto:
Bundesarchiv, Bild 183-R04103 / CC-BY-SA 3.0 
[CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], 
via Wikimedia Commons

2 Kommentare

Linear

  • Schurz  
    Zwei Anmerkungen: Diese neue parlamentarische Monarchie mag ein Fortschritt gewesen sein - aber eine volle Demokratie? Das Frauenwahlrecht hat dann doch erst die Weimarer Republik gebracht.
    Und eine Ergänzung: Ein wichtiges Datum zur Entstehung der deutschen Demokratie fehlt noch: 1989. WiE ist das dann einzuordnen?
    • Thorsten Kleinschmidt  
      Zweimal einverstanden.

      Ad 1: Das Frauenwahlrecht fehlt noch - was auch damals schon von vielen, aber nicht von allen, als Defizit empfunden wurde. Das schmälert jedoch nicht die historische Bedeutung des Fortschritts im historischen Vergleich. Die meisten Staaten, die damals als "Demokratie" bezeichnet wurden, hatten 1918 auch noch kein Frauenwahlrecht. Der Kampf um dieses Recht war auch in den sogenannten westlichen Demokratien noch im Gange - die USA und Großbritannien erreichten es in den 20er Jahren, Frankreich 1944, Italien 1946, die Schweiz 1971. Vielleicht sollte ich die Formulierung modifizieren: Die neue parlamentarische Monarchie war keine volle Demokratie im heutigen Verständnis, aber eine volle Demokratie im Verständnis von 1918.

      Ad 2: Die Demokratisierung der DDR 1989 gehört in die Traditionslinie von 1848 und November 1918. Hier geht es wieder um die Befriedung einer in Lager zerfallenden Gesellschaft durch die Einführung einer als gerecht empfundenen Ordnung, in der Konflikte regelbasiert ausgetragen werden können.

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