Seit dem 1. Juli führt  Belgien den Vorsitz im Rat der EU. Die Belgier sollen Europa in einer Zeit dirigieren, in der sie vor einem innenpolitischen Scherbenhaufen stehen: Bei den Wahlen im Juni gewannen die flämischen Separatisten und die wallonischen Sozialisten; eine Regierungsbildung ist schwierig, die bisherige Regierung Leterme ist nur noch geschäftsführend im Amt. Im Europaparlament musste Yves Leterme schon die Häme der EU-Skeptiker über sich ergehen lassen – das „auseinanderbrechende“ Belgien sei ein Prototyp für die ganze EU.

Was hier als dümmlicher Spott daherkommt, ist aus einer anderen Blickrichtung vielleicht gar nicht so abwegig. Die europäische Integration hatte in Belgien schon überzeugte Verfechter, als man in anderen Teilen des Kontinents noch davon träumte, mit dem Bajonett auf seine Nachbarn losgehen zu dürfen.

Der sozialdemokratische Politiker Jules Destrée träumte 1912 lieber von den Vereinigten Staaten von Europa – und zwar gerade weil er von den Segnungen des belgischen Nationalstaats nicht überzeugt war. Sein berühmter offener Brief an den König stellte fest, dass es keine Belgier, sondern nur Flamen und Wallonen gebe – und endete gerade deshalb mit einem hoffnungsvollen Ausblick auf eine europäische Integration.

Und der Ökonom Laurent Dechesne plädierte 1905 für eine europäische Föderation, weil die europäischen Staaten im Allgemeinen und Belgien im Besonderen einfach zu klein seien, um künftig neben den USA und Russland noch Gewicht haben zu können.

Beide Argumente tauchen seither immer wieder in Europadebatten auf:

  • Europa kann eine Vielfalt nationaler und regionaler Identitäten unter seinem Dach vereinen, da es für diese keine Bedrohung darstellt. Europa ist selbst keine Nation und übt daher auf die ihm zugeordneten Nationen und Regionen nicht den gleichmachenden Druck aus wie etwa der belgische Nationalstaat auf die flämische und wallonische Region.
         
  • Zur Außenwelt hin kann Europa die Funktionen übernehmen, die der europäische Nationalstaat nicht mehr erfüllen kann, weil dessen wirtschaftliche und politische Ressourcen in einer globalisierten Welt nicht mehr ausreichen.

Der Nationalstaat wird also aus zwei Richtungen kritisiert. Zum einen ist er nicht mehr in der Lage, über eine gemeinsame Identität innergesellschaftliche Solidarität zu organisieren. Zum anderen kann er die Interessen der Gesellschaft nach außen hin nicht mehr effektiv vertreten. Die europäische Integration kann eine Lösung für beide Probleme bieten. Gerade belgische Politiker haben das immer gesehen.

Voraussetzung für den Erfolg eines so verstandenen europäischen Projekts ist aber die Auflösung eines Widerspruchs innerhalb der Argumentation. Europa soll einerseits Ressourcen mobilisieren und bündeln, andererseits aber die Autonomie der kleineren politisch-identitären Einheiten – Nationen und Regionen – gewährleisten. Es soll eben nicht wie ein neuer Nationalstaat zentralistisch über die Provinzen verfügen können, muss aber dennoch einen verlässlichen Zugriff auf politische und wirtschaftliche Mittel haben.

Und hier kommt wieder Belgien ins Spiel. Die Entwicklung des belgischen Staates seit den Sechzigerjahren ist ein großes Experiment im Austarieren zwischen zentralen und regionalen Ansprüchen. Nirgendwo sonst in Europa wird derart radikal ausgelotet, was Subsidiarität bedeuten könnte. Der Abbruch des zentralistischen Staatsbaus französischer Provenienz und der Aufbau immer komplizierterer Strukturen der regionalen Selbstverwaltung sind Etappen auf einem Weg, an dessen Ende vielleicht eine modellhafte Balance zwischen dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Zusammenarbeit steht. Und eine solche ist genau das, was wir uns auch für die europäische Ebene wünschen sollten.

Auf jeden Fall bemerkenswert ist die Zivilität, mit der Belgien seinen Weg geht. Immer wieder war die viel gescholtene belgische Politik in der Lage, durch rechtzeitige Reformen ein Aufkochen der Konflikte zu verhindern. Frappant ist auch die Zähigkeit, mit der die Belgier letztlich doch an der nationalen Einheit festhalten. Der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen ist schließlich schon 150 Jahre alt – in dieser Zeit sind Österreich-Ungarn, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Jugoslawien an Nationalitätenfragen zerbrochen; und unter welchen Umständen!

Es spricht also durchaus einiges dafür, Belgien als ein Labor der europäischen Einigung im Auge zu behalten. Die Erfahrungen, die Belgien auf seinem schwierigen Weg macht, können für ganz Europa lehrreich sein. Zivilität, Pragmatismus und Reformfähigkeit der Belgier sind vorbildhaft. Zu Häme und Herablassung besteht kein Anlass.


 

3 Kommentare

Linear

  • wilhelmus  
    Warum ist das dümmlich, wenn man sagt, daß die EU wie Belgien auseinanderbrechen wird? Beides wird vermutlich passieren, weil beides Völkergefängnisse sind. Ein Bekannter von mir in Flandern sagt, daß die Flamen lieber mit den Deutschen zusammengehen würden als mit den Wallonen. Da ist eben kulturelle Nähe. Die fehlt in der EU auch. Was haben wir mit den Griechen zu schaffen? Österreich, Holland, Schweiz, Falndern ja, aber Griechen, Balkan und bald Türken? Schon Frankreich ist doch eine ganz andere Welt.
    • migrulo  
      "Warum ist das dümmlich, wenn man sagt, daß die EU wie Belgien auseinanderbrechen wird?"

      Dümmlich ist es, wenn Belgiens Probleme als "Prototyp" bezeichnet werden - so als sollte in Belgien gezielt getestet werden, wie man die EU am besten auseinandernehmen kann. Wo sich in der Vergangenheit doch gerade belgische Politiker wie wenige sonst für die EU ins Zeug gelegt haben.

      "Schon Frankreich ist doch eine ganz andere Welt."

      O Gott, wenn schon Frankreich für Sie eine ganz andere Welt ist - wo leben Sie??
  • p.schurz  
    Das Problem ist daß Europa sich nicht entscheiden will, was es sein will. Eine neue großmacht, ein Großstaat wie die USA, also die Vereinigten Staaten von Europa? Oder eine Freihandelszone wie die EFTA mit lauter Ländern wie Schweiz oder Norwegen?
    Wenn Europa in der Welt etwas bewegen will, muss es werden wie die USA - ein SChmelztiegel, in dem die einzelnen Nationen irgendwann verschwinden. Das wäre das Ende des Eurovision Song Contest. Es gäbe vielleicht bnoch europäische Sprachen, aber keine Nationen mehr.
    Wenn Europa das aber nicht will, wenn die Europäer lieber lauter kleine Schweizer und Norweger sein wollen, dann soll man sich keine Illusionen machen: Eine Weltmacht wird man dann nie, und die neuen Großen in der Welt - Inder, Chinesen, Brasilianer usw. - werden sich irgendwann um das vielstimmige Gebrabbel aus Europa nicht mehr bekümmern, wenn sie es denn je getan haben. Von den Amerikanern ganz zu schweigen. Warum wohl hat Obama das US-EU-Treffen einseitig abgesagt? Weil es einer Weltmacht nichts bringt, sich mit lauter SChweizern und Norwegern an einen Tisch zu setzen, deren Horizont nicht weiter als bis zur nächsten Bergkette oder zur nächsten Bohrinsel reicht!

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