Zusammenfassung: Selbst wenn die Waffen in der Ukraine schweigen, sind die Aussichten düster. Wir könnten in Osteuropa Verhältnisse wie in der Zeit zwischen den Weltkriegen bekommen. Deutschland, nicht die NATO, muss die Lage stabilisieren und Russland ausbalancieren.


Die ukrainische Regierung und die ostukrainischen Separatisten haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt.

Gesetzt, die Vereinbarung hält: Was bedeutet das für uns alle, in Europa, in Deutschland?

Gut ist der Waffenstillstand natürlich für die Menschen in den umkämpften Gebieten, die jetzt nicht mehr um ihr Leben fürchten müssen. Das sollte eine große Erleichterung für uns alle sein: Die Eskalation der Gewalt scheint gestoppt – aus dem kleinen Krieg wird kein großer Krieg.

Ansonsten aber sind die Aussichten düster.

  • Russland hat jetzt die Chance, die Gebiete in der Ostukraine in einen Vasallen-Staat zu verwandeln, der von Marionetten des Kreml regiert oder malträtiert wird, ähnlich wie in Transnistrien (Moldau) oder Südossetien (Georgien). Dieses ostukrainische Staatsgebilde braucht den Staat Ukraine gar nicht zu verlassen, ganz im Gegenteil. Solange in der Ukraine ein Staat im Staate existiert, der de facto von Moskau aus regiert wird, kann Russland ganz nach politischem Belieben die Ukraine ins Chaos stürzen. Eine von Russland kontrollierte autonome Region „Neurussland“ innerhalb des ukrainischen Staates wäre ein Revolver, der direkt auf Kiew zielt – Russland bräuchte nur abzudrücken. Das könnte heißen, dass uns die Ukraine-Krise noch über Jahrzehnte erhalten bleibt. „Frieden“ sollten wir das nicht nennen.

  • Russland könnte nun mit seiner Eroberungspolitik gegenüber den ukrainischen Nachbarn durchkommen. Dass Moskau die Krim wieder herausrückt, ist – zumal nach dem schönen Teilerfolg im Donbass – eine naive Fantasie. Und vielleicht lässt sich ja auf politischem Wege jetzt noch mehr herausholen, ein Landkorridor nach Südrussland, ein offizielles Protektorat über die Ostukraine oder etwas Ähnliches. Die Botschaft kann von anderen autoritären Herrschern mit Bedürfnis nach außenpolitischen Abenteuern so verstanden werden: Eroberungskriege lohnen sich wieder. Und es gibt viele Putin-Fans da draußen.

  • Die von Kiew aus regierte Ukraine könnte in einem Sumpf aus wirtschaftlicher Misere, nationalistischem Ressentiment und revanchistischer Außenpolitik versinken, vergleichbar mit Deutschland nach dem Versailler Vertrag. Auch die ukrainischen Nationalisten meinen, sie seien „im Felde unbesiegt“ geblieben. Das riecht nach einer ukrainischen Dolchstoßlegende. Wie so etwas enden kann, wissen wir. Und auch, dass so etwas Kreise zieht.

  • Politiker und Beamte, die ihre Karriere- oder Machtinteressen mit der NATO verbinden, sehen nun die Möglichkeit, dem zuletzt doch recht kränklichen Bündnis wieder neues Leben einzuhauchen, indem sie einen neuen Kalten Krieg ausrufen. Aber auch viele ernsthaft besorgte Menschen gelangen in diesen Tagen zur Überzeugung, dass für Russland in der europäischen Völkergemeinschaft kein Platz sein könne. Deutschlands großes außenpolitisches Projekt, Russland in Europa zu verankern, ist gescheitert. Die Idee einer europäisch-russischen strategischen Partnerschaft ist mausetot. Wir stehen vor den Scherben eines Vierteljahrhunderts deutscher Osteuropapolitik. Zu dumm haben wir uns angestellt, und die Russen waren noch dümmer. Welch ein Desaster.

  • Zu allem Überfluss hat Putin wider Willen die USA wieder in die europäische Politik hineingezogen. Die Amerikaner haben nun die Chance sich wieder als Schutzmacht Europas zu profilieren. Europa und Deutschland drohen wieder in alte Abhängigkeiten zurückzufallen.



Was können wir tun? Wir müssen retten, was zu retten ist – Russland muss ausbalanciert, die Ukraine stabilisiert, Deutschlands Verbündete im Osten müssen gesichert und beruhigt werden. Ein paar grobe Linien in Andeutung:

  • Auf mittlere Sicht sollten Polen und Deutschland sich in die Lage versetzen, gemeinsam Russland im Osten Europas militärisch auszubalancieren. Und zwar ohne auf amerikanische Militärressourcen zugreifen zu müssen. 

  • Das Projekt der Integration Russlands in europäische Strukturen muss auf Eis gelegt werden, solange Putin Präsident ist. Nach allem, was vorgefallen ist, sollte Deutschland nicht so tun, als wäre nichts passiert. Es geht darum, elementare Regeln des Zusammenlebens in Europa zu verteidigen: Man reißt sich nicht mit militärischer Gewalt Gebiete eines Nachbarlandes unter den Nagel. Wer es dennoch tut, muss mit unangenehmen Folgen rechnen. Deshalb sollten auch Wirtschaftssanktionen aufrecht erhalten werden.

  • Die Kiewer Ukraine sollte eine europäische Perspektive bekommen und irgendwie an die EU angebunden werden. Politische Neutralität der Ukraine ist keine gute Idee: Sie birgt die Gefahr, die ukrainische Gesellschaft in einen Nationalismus der Verzweiflung zu treiben.

  • Deutschland sollte die Kalten Krieger innerhalb der NATO ausbremsen, denn das institutionelle Eigeninteresse der NATO verschärft den Konflikt. Voraussetzung dafür ist aber, dass Deutschland bereit ist, das Sicherheitsvakuum in Osteuropa selbst zu füllen. Nicht alleine, aber als treibende Kraft.




Das ist ein Ausblick nach dem heutigen Stand der Dinge. Jetzt warten wir ab, ob die Waffen auch morgen und übermorgen noch still stehen.



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