Ukraine, und kein Ende. Der ewige Kampf Russlands gegen den Westen? Das ist Don Quijotes ewiger Kampf gegen die Windmühlen. Denn den Westen gibt es nicht.

Der Kalte Krieg ist wieder da, sagen amerikanische Politiker, Gelehrte und Journalisten. Der Kalte Krieg war immer da, sagen russische Politiker, Gelehrte und Journalisten. Der ewige Kalte Krieg zwischen Russland und dem Westen, der von Zeit zu Zeit zum Heißen Krieg wird, wenn der Westen das Heilige Russland mal wieder vernichten will; so 1610, 1812, 1914, 1941, vielleicht 2014. In jedem Fall wolle der Westen heute seine imperiale Einflusszone immer weiter gen Moskau vorschieben.

Auch deutsche Politiker, Gelehrte und Journalisten sprechen wieder gern vom „Westen“. Der Westen müsse zusammenstehen; der Westen müsse sich wieder auf seine Wertegemeinschaft besinnen; der Westen müsse eine Antwort auf die russische Herausforderung geben.

Was ist das, der Westen? Zweifelsohne gibt es einen als „westlich“ bezeichneten Kulturraum, der historisch nach und nach durch ganz bestimmte Traditionen geprägt wurde – griechische und römische Antike, Christentum, Renaissance, Aufklärung. Politisch geeint war dieser Raum aber seit der Teilung des Römischen Reichs im Jahre 395 nie. Der Westen als politische Einheit, als politischer Akteur existiert seit je nur in den Köpfen der Menschen. Man könnte auch sagen: Er ist ein Hirngespinst.


In seltenen Fällen hat sich eine größere Zahl der in diesem Kulturraum entstandenen Staaten zeitweilig zusammengeschlossen, um einer kriegerischen Bedrohung entgegenzutreten; so während der Kreuzzüge oder gegen die Osmanen. Aber diese Bündnisse hielten nie lange und machten meist schnell wieder dem üblichen Gegeneinander der westlichen Staaten Platz. Nicht die Bildung großer kontinentaler Imperien ist typisch für den westlichen Kulturraum, sondern die politische Zersplitterung und die ständige Rivalität kleiner und mittlerer Staaten untereinander.

So wurde denn Russland tatsächlich noch nie vom Westen angegriffen. 1610 führte man unglücklich Krieg gegen das Königreich Polen; 1812 wurde Russland wie zuvor schon die meisten anderen Staaten Europas Opfer von Napoleons Hyper-Imperialismus; im Ersten und Zweiten Weltkrieg war Russland in Wirklichkeit mit den meisten Staaten des westlichen Kulturraums verbündet.

Die NATO

Die NATO entstand im Kalten Krieg als Defensivbündnis einiger Staaten des westlichen Kulturraums gegen – andere Staaten des westlichen Kulturraums, denn weder die Sowjetunion noch Polen oder die DDR waren Teil Asiens. Auch die Erweiterungen des Bündnisses ab 1999 umfassten keineswegs alle Staaten der westlichen Kulturhemisphäre. Die NATO war immer weit entfernt davon, den Westen als Ganzes zu repräsentieren.

Nachdem die einigende sowjetische Bedrohung verschwunden war, machten sich wie bei früheren westlichen Zusammenschlüssen allmählich Auflösungserscheinungen bemerkbar; viele sprachen von einer Sinnkrise der NATO. Die Interessen der Mitgliedsstaaten erwiesen sich nun als ziemlich verschieden. Einige Staaten, wie vor allem die USA und Großbritannien, wollten die NATO als Instrument für imperiale Weltordnungspläne nutzen; andere Staaten wie Polen oder die Balten erhofften von der NATO umgekehrt Sicherheit vor den imperialen Ordnungsplänen Russlands; wieder andere wollten die USA an Europa binden, Deutschland ausbalancieren oder schlichtweg sicher stellen, dass wichtige sicherheitspolitische Entscheidungen in Europa künftig nicht über ihren Kopf hinweg getroffen würden.

Von einer kohärenten Politik oder einheitlichen politischen Strategie der NATO kann daher gestern wie heute überhaupt keine Rede sein. Während der Balkankriege stritten die NATO-Mitglieder jahrelang um die richtige Politik. Bei der NATO-Operation in Afghanistan gab es nie eine wirklich einheitliche politische oder militärische Führung; einer der Gründe, warum die Operation ziemlich erfolglos ist. Die NATO als Organisation verfügt über keine nennenswerte politische Macht; ihr derzeitiger Generalsekretär Rasmussen redet viel, hat aber nichts zu sagen.

Deshalb ist es auch unsinnig zu behaupten, die NATO breite sich in aggressiver Manier immer weiter in Richtung Moskau aus: Die Initiative zu den Erweiterungen gingen von den Beitrittsländern selbst aus, allesamt kleine bis mittlere Staaten, denen nicht einmal Russland imperialistischen Appetit auf russisches Territorium unterstellt; NATO-Mitglieder wie etwa Spanien, Italien oder Griechenland haben keinerlei Interesse daran, Russland zu bedrängen; die NATO-Mitglieder Deutschland und Frankreich verhinderten 2008 eine weitere Ausdehnung des Bündnisses auf die Ukraine und Georgien; für die neuen NATO-Mitglieder im Baltikum, die Russland am nächsten liegen, gibt es nicht einmal eine ernsthafte NATO-Verteidigungsplanung. Die NATO ist im Grunde ein ziemlich chaotischer Haufen ziemlich verschiedener Nationalstaaten, die alle unterschiedliche Interessen verfolgen. Selbst die USA als stärkste Macht können dieser Truppe nicht mehr die Richtung vorgeben. Einigen kann sie nur ein äußerer Feind – Russland zum Beispiel.

Die EU

Die NATO taugt also nicht als Imperium. Aber vielleicht die EU? Tatsächlich erhebt die EU den ideologischen Anspruch, zumindest den europäischen Teil der westlichen Welt politisch einigen zu wollen. Tatsächlich ist die EU politisch auch wesentlich stärker integriert als die NATO – anders als der NATO-Generalsekretär hat der EU-Kommissionspräsident tatsächlich Macht. Allerdings weniger als die deutsche Bundeskanzlerin, der französische Präsident oder der britische Premierminister. Denn auch in der EU geben letztlich die Mitgliedsstaaten die Richtung vor – und deren Interessen sind seit eh und je sehr unterschiedlich. Treibende Kraft hinter der von Russland so heftig kritisierten Osteuropa-Politik der EU war nicht eine imperiale allwestliche Elite. Nein, dahinter standen vor allem einige nationale Regierungen: Schweden etwa, Polen und Deutschland. Länder wie Irland, Portugal oder auch Frankreich und Großbritannien waren an der Ukraine oder Weißrussland kaum interessiert. Um nun aber die Ostpolitik Deutschlands, Polens oder Schwedens als existenzielle Bedrohung der russischen Nation zu empfinden, muss man als Russe schon ein wenig zu Verfolgungswahn neigen. Zumal da die Politik der EU sich gefühlt jedes Jahr ändert, je nachdem, welches Mitgliedsland gerade einmal wieder die Oberhand hat. Die bunte Truppe EU ist  alles mögliche, aber keine Kampforganisation eines Imperiums namens „der Westen“.

NATO und EU also sind Klubs orientierungsloser Nationalstaaten und verfolgen gegenüber Russland keine Strategie, die diesen Namen verdient. Also auch keine böse.

Bleiben noch die USA. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das einzige Land des westlichen Kulturraums, das gegenüber Russland tatsächlich eine außenpolitische Strategie verfolgt, die man mit etwas bösem Willen als imperial bezeichnen könnte. Man sieht Russland als potenziellen weltpolitischen Rivalen und versucht dessen Wiederaufstieg zu behindern. Auch haben die Amerikaner schon aus geografischen Gründen ein geringeres Interesse an gedeihlichen Beziehungen zu Russland als Russlands europäische Nachbarn. Deshalb haben die USA z.B. zeitweise recht energisch die Ausdehnung der NATO auf die Ukraine oder Georgien betrieben – was Deutschland und Frankreich verhindert haben – und auch bei den Revolutionen in der Ukraine und Georgien unterstützten die Amerikaner unverhohlen die Seite der russlandfeindlichen Kräfte. Auch der Aufbau einer Raketenabwehr mit Basen in Ostmitteleuropa ist ein amerikanisches Projekt (das sich allerdings vor allem gegen den Iran richtet).

Dies alles aber ist amerikanische Außenpolitik, nicht westliche. Europäische Staaten sind solchen US-Initiativen (und ähnlichen in anderen Weltregionen) entweder gar nicht gefolgt oder nur halbherzig. Oft haben Europäer die Amerikaner ausgebremst oder amerikanische Politik direkt konterkariert. Zuletzt etwa wollte sich außer Frankreich kein einziges europäisches Land an einer Militäraktion gegen Syrien beteiligen – die dann auch ausblieb. Denn was im Interesse der USA ist, liegt deswegen noch lange nicht im Interesse Deutschlands oder Italiens oder Litauens oder Portugals. Interessen des Westens gibt es eben nicht, und deshalb gibt es auch keine Strategie des Westens geschweige denn eine Politik des Westens.

Warum aber reden dann alle ständig vom „Westen“ - Politiker, Gelehrte und Journalisten in Russland und Deutschland, in Amerika und Italien, im Iran und in China?

Weil das Gerede vom „Westen“ einer Nebelkerze gleicht, hinter der man unangenehme Wahrheiten verstecken kann:

  • Amerikaner behaupten, für den „Westen“ zu stehen, damit weniger auffällt, dass sie im Grunde nur das enge nationale Interesse der USA im Auge haben.
  • Russen behaupten, gegen den ganzen „Westen“ zu stehen, um ihre imperialistische Rangelei mit den USA etwas großartiger aussehen zu lassen und ihre eigene Machtpolitik zum Freiheitskampf Davids gegen Goliath stilisieren zu können.
  • Deutsche und andere Europäer reden vom „Westen“, um die Macht der USA für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren zu können. Wer statt der Verantwortung Deutschlands die Verantwortung „des Westens“ beschwört, möchte, dass die USA für Deutschland die Kastanien aus dem Feuer holen.


Achten Sie mal drauf: Wann immer ein deutscher Politiker sagt „Der Westen muss...“, dann meint er „Die Amerikaner sollen ... und wir Deutschen gucken uns das dann im Fernsehen an“.

Der Westen als politische Kraft existiert so wenig wie seinerzeit die Arbeiterklasse. Der Westen ist  - Ideologie.

Wir raten von der Verwendung des Begriffs ab.



Karte: Länder, die Mitglieder von NATO oder EU sind.

(By Ssolbergj (Own work) [CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons / eigene Bearbeitung)






Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
BBCode-Formatierung erlaubt