Zuwanderung ist normal, nützt Europa und den Nationen  – schadet aber manchen Einheimischen. Das ist ungerecht.


Die Schweizer Stimmbürger haben letzten Sonntag in einer Volksinitiative die Niederlassungsfreiheit für Ausländer beseitigt. Auch EU-Bürger sollen sich künftig einer Quotenregelung für Einwanderer unterwerfen müssen. Die Entscheidung erregt die Gemüter. Zuvörderst natürlich in der Schweiz selbst. Aber auch in Deutschland und anderen Ländern der EU gibt es ungewohnt heftige Reaktionen; sei es, dass man den Schweizern ihre Trittbrettfahrerei vorwirft – „Vorteile der europäischen Integration mitnehmen, Probleme auf andere abwälzen“  –  sei es, dass man den Schweizern demonstrativ applaudiert und für das eigene Land ein ähnliches Recht auf  Rosinenpickerei verlangt.


Die Aufregung ist berechtigt, denn es geht um wichtige Dinge: um Selbstbestimmung, um Demokratie, um Bürgerrechte und um die Zukunft Europas.

Zunächst einmal: Die Schweizer haben jedes Recht, über ihre Einwanderungspolitik selbst zu bestimmen. Die Schweiz ist kein Mitgliedsland der Europäischen Union und hat daher auch nicht Teile ihrer Souveränität an Brüssel übertragen. Die Verträge mit der EU sind konventionelles Völkerrecht und können ohne Weiteres gekündigt werden – ob sie nachverhandelt werden können, entscheiden die Schweizer allerdings nicht alleine; da muss die EU schon einverstanden sein. In jedem Fall haben die Nichtschweizer dieser Welt die demokratische Entscheidung des Schweizer Souveräns zu akzeptieren. Die inneren Angelegenheiten der Schweiz gehen uns nichts an. Punktum.

Umgekehrt gilt natürlich auch: Wie die Länder der EU die künftigen Verhandlungen mit der Schweiz führen, d.h. welche Forderungen sie im Gegenzug für die Änderung  geltender Verträge erheben, steht nicht im Ermessen der Schweiz. Die Nachbarn haben nicht die geringste Lust, am Schweizer Wesen zu genesen. Sicherheit und Wohlstand sind im Europa der letzten 60 Jahre nicht durch außenpolitisches Schweizertum –  Isolationismus und nationale Nabelschau –  entstanden. Der einheitliche europäische Wirtschaftsraum, dem auch die Schweizer einen beträchtlichen Teil ihres Wohlstands verdanken, ist keine Errungenschaft der Schweizer Demokratie.

Wie auch immer – die rechtlichen Fragen werden in politischen Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz geklärt werden. Die Verhandlungsposition der Schweiz ist da nicht besonders gut, aber die EU-ropäer sollten im Sinne guter Nachbarschaft nicht auf Maximalforderungen beharren.

Wichtiger als der Streit selbst jedoch ist das, worüber gestritten wird. Die Schweizer Debatte hat in einigen EU-Ländern ein beträchtliches Echo ausgelöst, weil die Themen der Debatte gesamteuropäische Themen sind. Es geht um europäischen Zusammenhalt, um Bürgerrechte, um gesellschaftliche Veränderungen durch Zuwanderung  - und um Gerechtigkeit. Der Reihe nach:


Europäischer Zusammenhalt:
Sind wir bereit, anderen Europäern dieselben Rechte zuzuerkennen, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen? Im konkreten Fall geht es um das Recht auf freie Niederlassung, das ja auch in Deutschland mit Blick auf sogenannte „Armutsflüchtlinge“ derzeit umstritten ist. Aber die Frage zielt aufs Grundsätzliche. Sind wir also bereit, andere Europäer als Gleichberechtigte zu akzeptieren? In einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum zu leben? Wenn nicht, dann leben wir wieder in einer internationalen Klassengesellschaft mit Staaten erster, zweiter, dritter, vierter Klasse, deren Bürger in Europa jeweils unterschiedliche Rechte genießen, und die als politische Gemeinwesen ungleiche Entwicklungschancen haben. Dann müssen wir auch mit den Konflikten fertig werden, die daraus im Innern der Staaten und zwischen den Staaten unweigerlich entstehen. Genau diese Konflikte wollte die europäische Integration eigentlich beseitigen.

Bürgerrechte und Fortschritt:
Die Niederlassungsfreiheit ist ein elementares Bürgerrecht. Wer dieses Recht für andere aufhebt, beschränkt im gleichen Zug sein eigenes Recht. Gesetzt, die EU ließe es zu: Wollte Deutschland Südosteuropäern das Recht verweigern, sich frei in Berlin niederzulassen, würden gleichzeitig Deutsche das Recht verlieren, ihren Wohnsitz ans Schwarze Meer zu verlegen. Und vielleicht kämen Länder wie Dänemark, Luxemburg, Österreich oder Spanien dann auch auf die Idee, sich vor dem Zustrom deutscher Arbeitnehmer oder deutscher Rentner zu schützen. Wer ein Bürgerrecht aufheben will, und sei es nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen, sägt immer an dem  Ast, auf dem er selbst sitzt.
Es hat Jahrhunderte gebraucht, das Recht der Menschen durchzusetzen, sich überall in Europa niederzulassen. Erst 1993 haben wir das erreicht. Wollen wir dieses Bürgerrecht einfach so wieder wegwerfen?

Nein. Wir sollten dieses und jedes andere Recht, das wir Potentaten und Bürokraten im Lauf der Geschichte abgerungen haben, mit Klauen und Zähnen verteidigen. Und dazu müssen wir bereit sein, es auch den anderen Menschen in unserem politischen Lebensraum Europa zuzugestehen. Das ist auch der Weg zur Befriedung unseres schon wieder unruhigen Kontinents.

Aber damit haben wir noch nicht zu Ende räsonniert.

Gerechtigkeit:
Der kulturübergreifende gemeinsame Rechtsraum ist nicht umsonst zu haben. Wer aber zahlt den Preis? Wo Menschen zusammenrücken, entstehen Reibungen und manchmal Platzprobleme. Wenn als Folge der Niederlassungsfreiheit Löhne sinken oder Mieten steigen; wenn Schulen angesichts zahlreicher fremdsprachiger Kinder ihren Bildungsauftrag kaum noch erfüllen können; wenn es im Wohnumfeld Streit wegen unvereinbarer Gewohnheiten verschiedener Bevölkerungsgruppen gibt; wenn aus armen Einwanderern ein neues Subproletariat entsteht, das sich nicht immer an Recht und Gesetz des Aufnahmelandes hält; wenn überhebliche Neuankömmlinge für die Gepflogenheiten der Einheimischen nur Verachtung übrig haben – wer sind dann die Leidtragenden? Es sind  vor allem die sogenannten kleinen Leute; sie sind nicht klein, werden aber von Politik, Wirtschaft und Bildungsbürgern oft klein gemacht. Diejenigen, die unsere Europäisierung fordern und beschließen, sind nicht diejenigen, die die unmittelbaren Folgen zu tragen haben. Das macht die Forderung nicht falsch, ist aber ungerecht.

Zuwanderung und gesellschaftliche Veränderungen:
Zuwanderung verändert die Gesellschaft – zuweilen grundlegend. Ist das schlimm? Es ist vor allem normal. Es ist völlig normal, dass Menschen in großer Zahl in Regionen wandern, die sich wirtschaftlich besonders rasant entwickeln. Die Schweiz ist heute solch eine Region und klagt über vermeintlich außerordentliche Bevölkerungszuwächse von 80.000 Menschen pro Jahr. Aber die Zahl relativiert sich mit Blick auf die Entwicklung anderer Boomregionen. Die Stadt Duisburg etwa, die heute über tausend Armutseinwanderer vom Balkan klagt, verzweiundzwanzigfachte ihre Einwohnerzahl im Zeitalter der Industrialisierung von 5.000 im Jahre 1810 auf 110.000 im Jahre 1905. In den 70erjahren lebten über eine halbe Million Menschen in der Stadt. Das kleine niederrheinische Landstädtchen verwandelte sich in eine riesige, vielsprachige Industriemetropole. Die Alltagskultur änderte sich binnen weniger Jahrzehnte radikal. So ist das, wenn die Wirtschaft hier floriert und dort stagniert oder schrumpft. Mittlerweile nimmt die Einwohnerzahl Duisburgs wieder ab. Alle großen Industrieregionen Europas erlebten ähnliche Wanderungsbewegungen. Das schuf immer wieder große Probleme, aber Probleme gehören zum Leben.

Die Frage ist nicht: Wie kann man Veränderungen verhindern? (Die Antwort würde lauten: gar nicht.) Die Frage ist: Wie kann man sie gestalten? Wie können wir die Veränderungen, die das Zusammenwachsen Europas mit sich bringt, so gestalten, dass Nutzen und Lasten in der Gesellschaft annähernd gleich verteilt sind?

Wie schaffen wir es, dass Zuwanderung nicht einseitig zu Lasten derjenigen Einheimischen geht, die die Zuwanderer im Alltag tatsächlich als Konkurrenten erleben? Konkurrenten um Arbeitsplätze, die die Löhne drücken. Konkurrenten um Wohnungen, die die Mieten steigen lassen. Konkurrenten um die Aufmerksamkeit der Lehrer, die die eigenen Bildungschancen verschlechtern. Konkurrenten um die kulturelle Hegemonie im Wohnviertel, die einen selbst zur ausgegrenzten Minderheit machen. Und, liebe Schweizer, in Gottes Namen auch Konkurrenten um Sitzplätze in der Straßenbahn.

Zuwanderung ist normal, Zuwanderung ist nützlich, und Zuwanderung bringt viele Probleme mit sich. Für die müssen wir dringend Lösungen finden. Der Mindestlohn ist ein wichtiger Anfang. Wir brauchen aber auch starke Gewerkschaften, mehr Wohnungsbau, Auflösung von Schulgettos und vieles mehr.

Wir brauchen intelligente Politik.


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